Durch das Hereinbrechen der COVID-Pandemie war das Festival-Leben 2020 national wie international zum Erliegen gekommen – auch das in Birmingham geplante UNICA-Festival fiel ersatzlos aus. Der Rücktritt des UNICA-Präsidenten Dave Watterson im Juni 2020 führte zu einem zusätzlichen Vakuum in der Organisation der UNICA, das Vizepräsident Bernhard Lindner mit viel persönlichem Einsatz in einer schwierigen Zeit füllte. Dennoch musste ein neuer Präsident gefunden werden und mit seiner Hilfe auch neue Austragungsorte für die nächstjährigen UNICA-Festivals.
Der gesamte Verband kann sich glücklich schätzen, nun mit Rolf Leuenberger einen sehr erfahrenen und ungeheuer engagierten Präsidenten zu haben, der mit seinen Ideen viel frischen Wind in die Organisation bringt. Rolf ist dann auch gleich für die Organisation der nächsten UNICA in die Presche gesprungen und konnte Locarno mit seinem auch vom Profi-Filmfestival genutzten PalaCinema als Austragungsort gewinnen. Gleichzeitig sollte hier auch der Beweis angetreten werden, dass UNICA-Festivals auch mit überschaubaren Budgets zu stemmen sind, was sich auf die Bereitschaft zukünftiger Ausrichter positiv auswirken sollte.
Als wir uns nach drei Jahren Pause im August 2022 wieder mit Freude in vertraute Gesichter blickten und die bekannte UNICA-Atmosphäre überall spürbar war, hatten sich doch ein paar Dinge verändert. Ein gestrafftes Filmprogramm mit diesmal nur 40 Minuten Zeit pro Land tagsüber, die Jurydiskussionen geblockt am Abend und das Rahmenprogramm als Klammer vor und nach den Filmtagen gaben dem Festival eine neue Struktur, die meines Erachtens gut funktionierte. Im fantastischen PalaCinema lag der Fokus ganz klar auf dem Thema Film, auch in den Sonderprogrammen während der Filmtage. Auch wenn es kein Eröffnungsbankett oder ein feierliches Abschluss-Dinner gab, so sorgten doch Herzlichkeit und viele zwischenmenschliche Momente für eine feierliche Atmosphäre und Stolz, dabei sein zu dürfen.
Noch etwas war neu, denn die Jury bestand diesmal nur aus drei Mitgliedern. Ich durfte an der Seite von Jacqueline Pante und Sándor Buglya mitwirken und habe die Arbeit mit diesen beiden sehr erfahrenen Juror:innen genossen. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns gut ergänzten und vor allem viel Wertschätzung füreinander da war, was sich hoffentlich auch positiv auf unsere Diskussionsbeiträge auswirkte. Dass wir nur zu dritt waren, war meiner Meinung nach in dieser Konstellation kein Nachteil. Aber das müssen andere beurteilen.
Die Filme wiederum durften wir beurteilen – hier eine kleine Auswahl an bemerkenswerten Filmen, von denen es nach der langen Pause eine ganze Menge gab:
Adél (Adele) von Gergely Lukács (HUN)
Ein unglaublich dichtes Kammerspiel mit beeindruckender Schauspielleistung, das zwischenmenschliche Erfahrungen in den Fokus nimmt. Eine Person, die einen einnimmt und dabei ganz offensichtlich mit sich selbst kämpft.
https://filmtett.ro/filmek/adel
Giusto il tempo per una sigaretta (End of September) von Valentina Casadei (ITA)
Häusliche Gewalt spielt sich auf vielen Ebenen ab. Die Vernachlässigung durch die Mutter zwingt den Bruder in eine Ersatzrolle, die er am Ende endlich abgeben kann – auch hier lebt der Film von Emotion und Dichte – und der Hoffnung.
https://valentinacasadei.wixsite.com/endofseptember
Mina Sköra Händer (My Fragile Hands) von Willy Fermelin (SWE)
Hier werden uns Vorurteile und deren Wirkungen schonungslos aufgezeigt. Der Teufelskreis, dem sich Hilfesuchende, hier Asylsuchende, ausgesetzt sehen – in einer heuchlerischen Gesellschaft, die nur vorgibt helfen zu wollen, aber eigentlich schon beschlossen hat, dass man nicht dazugehört – packend und schonungslos dargestellt.
Ferides (Wounds) von Joan Paüls (ESP)
Auch hier überwiegt das Zwischenmenschliche – aus einer einzigen Szene in der Intimität des Schlafzimmers entspinnt sich das ganze Potenzial von zwischenmenschlichen Tragödien, verschwimmen die Grenzen zwischen Hypothesen und Fakten.
https://joanpauls.com/portfolio/wounds/
HIER ANSEHEN > https://vimeo.com/250644023
Sachiko von Miguel Esteve (ESP)
Fantastischer Umgang mit dem Hochformat, packende Story zwischen Realität und Fantasie mit herausragender Kamera.
HIER ANSEHEN > https://www.youtube.com/watch?v=YCXZwyOHlkc
Le Dernier Jour (The Last Day) von José Joubert (FRA)
Berührendes kleines Drama rund um das gesellschaftlich relevante Thema der zunehmenden Ärzteknappheit, gepaart mit der Auseinandersetzung zwischen Beruf und Berufung.
HIER ANSEHEN > https://www.youtube.com/watch?v=WP2k36teC-c
Megálló (Station) von Sára Judit Elek (HUN)
Eine Dokumentation, die die Tristesse eines zunehmend verlassenen Dorfes und ihrer Bewohner behutsam und respektvoll zeigt – der bittere Nachgeschmack bleibt.
HIER ANSEHEN > https://vimeo.com/505914545
Mit dem Preis für das interessanteste Länderprogramm wurde diesmal Deutschland ausgezeichnet – für einen hochkarätigen Mix an Filmen unterschiedlichster Genres, die zum Nach- und Weiterdenken anregten.
Die UNICA 2022 in Locarno hat einige Neuerungen gebracht und war von Anfang an als Feldversuch angelegt – also auch, um zu lernen, was funktioniert und was nicht. Es gibt schon ein paar Stellschrauben, an denen man für 2023 drehen kann. Rolf Leuenberger und das UNICA-Team für den nächstjährigen Austragungsort Comacchio sind schon dabei. Ich freu mich drauf!
Bericht: Thomas Schauer
Foto: Dieter Leitner
Einen Unica-2022-Reise-Bericht und ein UNICA-2022-Video von Susanne Dušek & Dieter Leitner gibt es HIER.